GFK und Urteilen

Vor kurzem wurde ich Zeugin eines schrecklichen Ereignisses. Mitten in der Nacht wurde ich von Schreien geweckt und sah wenig später, wie eine Wohnung abbrannte. Eine Familie erlitt dabei schweren Schaden. Das Gefühl, nichts oder nur wenig tun zu können, löste eine starke Ohnmacht in mir aus. Ich schlief in dieser Nacht unruhig und verbrachte den nächsten Tag ziemlich durcheinander, während ich versuchte, meinen Alltag zu meistern und einkaufen zu gehen.

 

An der Kasse fiel mein Blick auf zwei Tüten, die auf dem Laufband lagen. Ich nahm sie und stellte sie in die Körbe unten auf den Boden. Eine unüberlegte Handlung, aber so handelte ich eben in dem Moment. Die Frau hinter mir begann jedoch, mich zu verurteilen: „Soso, und jemand anderes kann es dann wegräumen, oder wie?“ Verdutzt blieb ich stehen und konnte nicht reagieren. Die Frau wandte sich an eine weitere Person und regte sich weiter über meine Handlung auf. Ich hörte Wortfetzen wie „typisch“ und „jeder denkt nur an sich“. Verdattert verließ ich den Laden.

 

Diese Frauen konnten natürlich nicht wissen, was ich in der Nacht zuvor erlebt hatte. Vielleicht wären sie dann nachsichtiger gewesen. Vielleicht hätten sie die Tüten an einem sinnvolleren Ort abgestellt. Doch zu Hause spürte ich, wie schmerzlich diese Urteile waren. Wegen einer Lappalie hatte man mich in eine Schublade gesteckt. Zack – plötzlich war ich „eine von denen, die es sich leicht machen“, eine, die es anderen überlässt, für Ordnung zu sorgen.

 

Der erste Schritt in der sogenannten 4-Schritte-Methode der Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg ist die 

Beobachtung – ohne zu bewerten, zu analysieren oder zu diagnostizieren. 

In einem Gespräch hilft uns das, unvoreingenommen in die Kommunikation zu gehen. Im Konflikt öffnet es die Möglichkeit, dass unser Gegenüber uns überhaupt noch zuhört. Kommen wir gleich mit einem Urteil daher, verschließt sich der andere oft. Werten und Urteilen trennen und gehören zur „Wolfswelt“, wie Marshall Rosenberg sie beschreibt, um zwischen trennender und verbindender Kommunikation zu unterscheiden.

 

„Es ist die höchste Form menschlicher Intelligenz, zu beobachten, ohne zu werten.“ – Krishnamurti

 

Wie schwer es ist, das Urteilen zu lassen, wissen wir alle. Auch ich möchte die beiden Frauen nicht verurteilen. Hinter jeder Handlung steht ein Bedürfnis, in diesem Fall vermutlich das nach Ordnung und dem Wunsch, dass Dinge nicht einfach anderen überlassen werden.

 

Wir alle urteilen; wir brauchen Orientierung. Doch es soll hier nicht um alltägliche Urteile gehen – wie die Entscheidung zwischen Kaffee und Tee am Morgen.

 

Es geht vielmehr darum, dass wir nie wirklich wissen, was ein Mensch erlebt hat, woher er gerade kommt und warum er etwas tut. Genau genommen müssten wir die gesamte Geschichte eines Menschen kennen, um zu verstehen, was ihn zu einer Handlung bewegt. Das ist natürlich unmöglich. Vielleicht kämpft die Frau an der Kasse, die nie lächelt, mit einer Depression, und der Jugendliche, der lautstark auf der Straße herumbrüllt, steckt in einer Situation, die ihn überfordert. Was wissen wir tatsächlich über die inneren Welten anderer?

 

„Wer weniger urteilt, kann mehr lieben.“

 

Mir ist bewusst, dass es eine lebenslange Praxis ist, sich im Urteilen zu mäßigen. Das ist es auch für mich. Es geht nicht darum, überhaupt nicht mehr zu urteilen, sondern vielmehr darum, uns dieser Urteile bewusst zu werden und zu spüren, was sie mit uns und unseren Mitmenschen machen.

 

Ich glaube, unserer Welt und uns allen würde es gut tun, mehr Liebe zu erfahren.

 

Wie seht ihr das? Habt ihr ähnliche Erlebnisse, in denen ihr vorschnell abgeurteilt wurdet? Wie hat sich das für euch angefühlt?

 

Meine Seminare sind sehr praxisorientiert, denn durch eigene Erkenntnisse lernen wir am besten Verhalten zu ändern.

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